Juri Durkot - ein Tagebuch aus der Ukraine

Die meisten Schweizer auch in meinem Alter haben keinen Krieg im eigenen Land erlebt. Um so schwieriger ist es zu verstehen, was der aktuelle Krieg und das Leid für die Bevölkerung der Ukraine wirklich bedeutet. Ich habe im Netz ein tägliches Tagebuch von Juri Durkot aus der Ukraine gefunden, welches mich sehr berührt und ich hier mit euch teilen möchte.

Seit dem 24. Februar 2022, dem ersten Kriegsmorgen beschreibt der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg mit E-Mails die Lage in der Ukraine. Juri Durkot wurde für seine Übersetzungen der Werke von Serhij Zhadan – gemeinsam mit Sabine Stöhr – mit dem Brücke Berlin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.


Einmal werden wir wieder Europa besuchen, aber heute gehen wir nicht.

Ein Tagebuch aus der Ukraine von Juri Durkot


Ab dem 13. März geht das Tagebuch von Juri Durkot direkt hier weiter.


Lemberg, den 12. März, nachmittags

Meine Grosstante flocht Einkaufsnetze. Sie waren aus Baumwolle, engmaschig, grün oder dunkelblau, und einst ziemlich beliebt. Leicht, aber belastbar, passten sie zusammengerollt in jede Damentasche. Ein perfektes Netz für Zufallskäufe, auch wenn sich darin das Gekaufte ständig verfing und für alle sichtbar war. Man konnte ja nie wissen: Vielleicht fand man unterwegs mit viel Glück etwas Exotisches? Georgische Mandarinen zum Beispiel. Orangen gab es damals nur in Moskau.

Die Großtante war ihr ganzes Leben herzkrank und konnte weder in einer Fabrik noch im Büro arbeiten. Ganz ohne Arbeit durfte sie allerdings nicht einfach zu Hause herumsitzen. In der Sowjetzeit herrschte ja Vollbeschäftigung. So lieferte der Staat meiner Tante das Garn und nahm die fertig geflochtenen Taschen ab. Keine Ahnung, wie viele es waren. Pro Woche, pro Monat, pro Jahr? Ob auch Herzkranke eine Norm erfüllen mussten? Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall bekam sie sogar ein paar Kopeken für jede Tasche.

 

Das Bild, wie meine Tante auf dem Sofa sitzt, mit ihren Netzen beschäftigt, kam mir plötzlich in Erinnerung, als ich gestern in einer Kinderbibliothek vorbeischaute. Kinder waren dort keine zu sehen, aber viele Bücher. Und viele junge Frauen und Männer. Sie flochten Netze. Nicht so engmaschig wie die Tragetaschen. In einem Raum werden die Fäden in einem Knotengitter auf einen großen Holzrahmen gespannt, in einem anderen werden Bänder aus grünem Stoff unterschiedlicher Farbtöne geschnitten. Fertig sind die Grundelemente. Man muss nur noch die Bänder in das Gitter hineinflechten. So sieht ein Tarnnetz aus, hergestellt von freiwilligen Helfern. Abnehmer: ukrainische Soldaten an der Front.

Die Bibliothekarin zeigt mir ein paar Bilder. Von Kindern für die Soldaten gemalt. Sie werden zusammen mit den Netzen verschickt. Ein kleines Mädchen aus Charkiw hat ihre Stadt gemalt, wie sie vor den Zerstörungen ausgesehen hat. Die Häuser stehen noch unbeschädigt da, aber der Himmel darüber leuchtet rot. Vielleicht ist es nur die Stadt bei Sonnenuntergang. Oder eine düstere Vorahnung davon, was passieren wird.

Eine ältere Dame, wahrscheinlich eine Oma, fragt am Empfang nach einem Buch von Charles Perrault. Kinder brauchen Märchen. Selbst im Krieg.

Lemberg, den 11. März, abends

In unserer Schulzeit waren wir ganz normale Kids. Meistens fröhlich und unbekümmert, manchmal traurig und verzweifelt, selten böse und grantig. Wie alle Jungs und Mädels in der Pubertät. In den Pausen spielten die Jungs Fußball, die Mädchen hüpften auf einem Bein von einem Quadrat zum anderen. Die Quadrate, mit der weißen Kreide auf dem Asphalt gezeichnet, bildeten zwei parallele Reihen. Es war eine Variante von Himmel und Hölle. Es gab Lehrer, die wir mochten; den anderen spielten wir ab und zu einen Streich, übertrieben es aber nicht. An Monster und Diktatoren kann ich mich nicht erinnern.

Die Lehrer waren verpflichtet, uns mit sowjetischer Propaganda zu indoktrinieren. Sie taten es eher halbherzig. Wir wussten alle, dass man nicht offen sagen darf, was man denkt. Dass man über bestimmte Dinge nur zu Hause redet, und selbst dann im Flüsterton, damit die Nachbarn nichts mitbekommen.

In der sowjetischen Propaganda war die UdSSR ein Paradies für Arbeiter und Bauern, ein friedfertiges Land, das sich für Frieden überall auf der Erde einsetzt. Deswegen mussten wir im Sportunterricht das Werfen von Handgranaten üben. Ok, es waren nur Attrappen.

An Weihnachten und Ostern wurden wir in die Schule beordert, um Schießübungen mit dem Luftgewehr zu absolvieren. Handgranaten und Gewehre als Friedensbringer. Irgendwie kommt mir das bekannt vor.

Im Deutschunterricht lernten wir Gedichte von Goethe auswendig. Für Alltagsvokabular bot das Schulprogramm wenig Platz. Ich stellte mir vor, ich stünde verloren in Leipzig oder in Weimar und müsste nach dem richtigen Weg fragen. Da hätte ich Goethe zurate ziehen müssen. Dass ich nach Hamburg oder München kommen könnte, also in die Bundesrepublik, lag damals außerhalb meiner Vorstellungskraft. Uns allen schien es, als würde die Sowjetunion ewig existieren.

Ich kam weder nach Leipzig noch nach Weimar. Meine erste Auslandsreise überhaupt führte mich ein halbes Jahr nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Wien. Bei meinem ersten Kontakt mit Deutschen war ich schon Student. Es war ein internationaler Motocross-Wettbewerb Ende April 1986. Das Wetter war prächtig, keine einzige Wolke zu sehen. Wir wussten nicht, dass zwei oder drei Tage zuvor ein Reaktorblock in Tschernobyl explodiert war. Eine Mannschaft aus der DDR nahm am Rennen teil. Die Jungs interessierten sich nicht wirklich für Goethe.

Einmal in der Woche hatten wir in beiden letzten Schuljahren Wehrkundeunterricht. Ein pensionierter Major brachte uns die theoretischen Fragen der sozialistischen Landesverteidigung bei. Dazu mussten wir lernen, wie man eine Gasmaske aufzieht, und wie man eine Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, ohne dass irgendwelche Teile übrig bleiben. Wir nahmen es nicht wirklich ernst, sagten es aber nicht laut.

In dem Raum, wo wir früher Wehrkundeunterricht hatten, lebt heute eine Lehrerin mit zwei Kindern. Die Familie ist aus Charkiw geflüchtet. Ihre Schule wurde zerbombt. Die Frau sah, wie das Schulgebäude in Flammen stand. In allen anderen Klassenräumen sind ebenfalls Flüchtlingsfamilien untergebracht worden.

Es gibt vierunddreißig Klassenräume in dieser Schule. Es gibt 140 Schulen in Lemberg.

Lemberg, den 10. März, abends

Ingwer, Zitrone, Orange, Honig. Schneiden, pressen, verrühren. Verpackt wird die dickliche, süßsaure und leicht scharfe Masse in Plastikbehälter, die zusätzlich in eine Lebensmittelfolie eingewickelt werden. Es ist ein Energy-Drink, der an ukrainische Soldaten verschickt wird, die an der Front kämpfen.

Es gibt auch andere Rezepte, zum Beispiel für Vitaminriegel. Man nehme jeweils 200 Gramm Dörrpflaumen und getrocknete Aprikosen, dazu jeweils 100 Gramm gebratene Erdnüsse und Rosinen. Leinsamen, Sesam, Haferflocken und Honig dazu geben. Die Früchte für 10 bis 20 Minuten ins warme Wasser legen. Wasser abgießen, die Früchte kurz trocknen lassen und in einem Mixer zerkleinern, bis eine breiartige Masse entsteht. Nüsse, Haferflocken und Honig hinzugeben. Einen Riegel formen, in Leinsamen und Sesam rollen, in Folie einwickeln und für eine Stunde in den Kühlschrank stellen. Fertig.

Ein großer Fleischwolf steht auf dem Tisch, ein anderer noch nicht ausgepackt auf dem Fußboden. Ein Geschenk. Etwa ein Dutzend Frauen stehen in der Küche und den zwei Nebenräumen eines Priesterseminars. Alle sind freiwillig hier, die meisten kommen jeden Tag für mehrere Stunden. Andere liefern notwendige Zutaten. Manche bringen von zu Hause gebackene Kuchen, eine Art Stollen, mit. Alles wird sortiert und in Kisten verpackt.

Es ist wohl die größte Produktionsstätte von handgemachten Energiedrinks und Vitaminrollen in der Stadt. Leinsamen, Nüsse, Früchte und Honig kommen aus der gesamten Region. Von einfachen Menschen gekauft und geliefert. Bis zu 150 Kilogramm vitaminreicher Kost werden hier täglich produziert. So bekommen die Soldaten zusätzlich zu ihrer Ration einen Vitamin- und Energieschub. Noch am selben Tag holen andere Helfer die Energiepakete ab und verschicken sie an die Front. Die ausgeklügelte Logistik funktioniert.

Ein paar Tage nach dem Überfall findet man in zerstörten Mannschaftswagen und Panzern Behälter mit Rationen russischer Soldaten. Darauf ist das Verfallsdatum zu sehen: Februar 2015. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der lösliche Kaffee darin noch genießbar ist.

Lemberg, den 9. März, abends

Manche Geschichten sind so schön, dass man ihnen einfach glauben will. Auf jeden Fall in Kriegszeiten. Ob sie wahr sind, lässt sich nicht überprüfen. Wenn nicht, dann ist es ukrainische Mundpropaganda. Dafür gibt es ja bekanntlich Facebook. Dort ist folgende Anekdote zu lesen.

Vier russische Panzer fahren in ein Dorf in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine ein. Die Bauern verstecken sich in ihren Häusern. Sie beobachten, wie russische Soldaten Treibstoff aus zwei Panzern ablassen und in die Tanks der beiden anderen einfüllen. Offenbar haben sie nicht sehr viel Treibstoff, die Nachschubprobleme sind allgemein bekannt. Zwei Panzer fahren los, um irgendwo Diesel aufzutreiben. Zwei andere werden zurückgelassen. Weit und breit niemand zu sehen. Die Bauern kommen aus ihren Verstecken und befestigen ukrainische Fahnen an den Panzertürmen. 

Eine Weile später tauchen die beiden anderen Panzer wieder auf. Vielleicht haben sie in Russland getankt, die Grenze ist nicht weit weg. Sie sehen die ukrainischen Fahnen in der Ferne und fangen an zu schießen. Kein Widerstand. Die Bauern beobachten die Panzerschlacht aus den Kellern. Die russischen Panzer fahren näher heran, sehen, was sie angerichtet haben. Freuen sich wohl nicht besonders darüber. 

Nun fahren die beiden verbliebenen Vehikel wieder los, biegen falsch ab und geraten auf eine Umgehungsstraße. Dort gibt es eine Brücke, nur für die PKWs geeignet. Aber das Straßenschild mit der entsprechenden Warnung hat man dort schon vor Tagen entfernt. Einer der Panzer fährt weiter und fällt zusammen mit der Brücke in den Fluss. Ende der Reise. Der letzte Panzer landet kurz danach beim Versuch zu wenden in einem tiefen Graben. Die Soldaten fliehen.

Die drittstärkste Armee der Welt kämpft tapfer weiter.

Lemberg, den 9. März, vormittags

Der Fernsehjournalist Oleh ist seit über achtundvierzig Stunden unterwegs. Er versucht, seine Familie in Sicherheit zu bringen. Ein Freund hat ihm ein Auto geliehen. In dieser Situation ist das eigentlich ohne eine Rückgabegarantie. Das Abenteuer begann vor zwei Tagen am frühen Morgen in Kiew. Als Oleh die Koffer zum Auto brachte, stellte er fest, dass jemand ein Loch in einen Reifen gebohrt hatte. Was tun? Ein Reserverad gab es im Auto nicht. Ein Reifenservice war nicht in Sicht. Er hatte Glück, dass ein Bekannter von ihm eine Werkstatt betreibt. Selbstverständlich war sie zu, keine einzige Autowerkstatt hat derzeit in Kiew geöffnet. Aber Oleh konnte er helfen, der Reifen wurde notgeflickt. Also los.

Seine Frau und seine Tochter will Oleh bei den Verwandten in der Nordwestukraine unterbringen, in Lutsk. In normalen Zeiten braucht man für die Reise von Kiew nach Lutsk etwa vier bis fünf Stunden, es sind etwas mehr als 400 Kilometer. Es sind keine normalen Zeiten. Die Straße ist von kaputten russischen Panzern und Militärfahrzeugen zugemüllt, eine Brücke wurde von russischen Diversanten gesprengt, dabei fielen mehrere Autos von der Brücke herunter. Also muss man weiträumig umfahren. 

Am ersten Tag schafft Oleh bis Winnytsia. Die Stadt liegt nicht mal 300 km südwestlich von Kiew entfernt. Am dortigen Flughafen, der vor kurzem von Grund auf erneuert wurde, sind vor paar Tagen russische Raketen eingeschlagen. Das Recherchenetzwerk Bellingcat berichtet, dass es sich womöglich um acht modernste Raketen vom Typ X-101 gehandelt hat. Mindestens zehn Menschen wurden dabei getötet.

Oleh übernachtet in einer improvisierten Flüchtlingsherberge und fährt am nächsten Morgen weiter. Es geht weiter Richtung Westen. Die Straße ist total verstopft, Militärfahrzeuge und Rettungsdienste haben höchste Priorität. Es geht fast die ganze Zeit nur mit Schritttempo voran. Autos aus Charkiw, Tschernihiw, aus dem Donbass. Der Reifendruck lässt wieder nach. Oleh muss immer wieder anhalten und nachpumpen. Kein Reifenservice weit und breit. Andere Autofahrer bieten Hilfe an. Aber ein Rad verkaufen kann niemand.

Endlich sieht Oleh eine Werkstatt. Sie hat auf, dort gelingt es, den Reifen zu reparieren. Es geht im Schritttempo weiter. Am Abend sieht er ein Hotel, zufällig ist dort noch ein Zimmer frei. In zwölf Stunden hat Oleh mit seiner Familie am zweiten Tag knapp 150 Kilometer geschafft. Heute fährt er weiter. Noch 300 Kilometer liegen vor ihm. Er weiß nicht, ob er es bis zur Ausgangssperre schafft.

Meine Frau hat heute Nacht von abgeschossenen Flugzeugen geträumt. Im Traum saßen die Menschen in Katakomben. Alle trugen schwarze Ballettschuhe.

Lemberg, den 8. März, abends

In seinem Buch „Die reale und die imaginierte Ukraine” erzählt der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk einen alten sowjetischen Witz: Hannibal, Alexander der Große und Napoleon wohnen einer Militärparade auf dem Roten Platz bei.

„Tja-a-a“, seufzt betrübt Hannibal, während er von der Tribüne des Lenin-Mausoleums hinabblickt, „hätte ich solche Panzer gehabt, hätte ich die Römer besiegt“. „Hätte ich solche Raketen gehabt, hätte ich die Welt erobert“, sagt Alexander. Napoleon liest indessen entzückt in der „Prawda“, ohne Panzern und Raketen Beachtung zu schenken. Schließlich sagt er: „Hätte ich eine solche Zeitung gehabt, hätte niemand von meiner Niederlage bei Waterloo erfahren.“

Kann es sein, dass der Krieg in der Ukraine zum russischen Waterloo wird? Schwer zu sagen. Die anderen Fragen sind dagegen leichter zu beantworten: Werden die Menschen in Russland jemals erfahren, was in der Ukraine wirklich passiert ist? Wie die russische Armee das Nachbarland überfallen und einen Terrorkrieg gegen Zivilbevölkerung, gegen Frauen und Kinder geführt hat? Welche Kriegsverbrechen ihre Generäle und Offiziere zu verantworten haben? Wie viele russische Soldaten tatsächlich bei den Angriffen ihr Leben gelassen haben? Wie viele Verwundete in die Krankenhäuser eingeliefert wurden? Ich befürchte, dass die Antwort auf alle diese Fragen ist: nein. Das Land ist schon längst unter einer kilometerdicken Schicht von Prawdas begraben, die zuletzt nicht nur immer aggressivere Lügen, sondern einen regelrechten Hass gegen die ganze Welt produziert haben.

Es klingt nicht mal wie Ironie, dass der Name der alten sowjetischen Parteizeitung übersetzt „Wahrheit” bedeutet. Es passt einfach zu gut zum orwellschen Modell der modernen russischen Welt. Nach dem Tod Stalins wurde die Tür zur Wahrheit nur für eine kurze Zeit einen winzigen Spalt aufgemacht. Danach wurde der Vorhang wieder zugezogen. In der Perestroika-Zeit, als die Tür weit aufgerissen war, war die Gesellschaft nicht imstande, die Wahrheit zu akzeptieren. Zu viele Verbrechen, zu viele Täter.

Vielleicht kann ein Land seine Verbrechen nur anerkennen, wenn es besiegt wird, wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Und selbst dann dauert es mindestens eine Generation. Aber der Westen hat Angst vor einem Sieg gegen Russland. Ich meine es gar nicht im militärischen Sinne.

„Weder Raketen noch Panzer, noch die ‚Prawda‘ konnten die Sowjetunion vor dem Zusammenbruch retten”, schreibt Rjabtschuk. Einer der Nägel im Sarg des Imperiums war das sowjetische Fiasko in Afghanistan. Der ukrainische Menschenrechtler und Anwalt Masi Nayyem, dessen älterer Bruder Mustafa an den Ursprüngen der Euromaidan-Proteste stand, ist überzeugt: Der Krieg in der Ukraine wird den Untergang Russlands genauso einleiten, wie einst der Krieg in Afghanistan den Untergang der Sowjetunion eingeleitet hat. Masi Nayyem weiß, wovon er spricht. Er ist ein gebürtiger Afghane und musste als Kind aus seinem Heimatland fliehen.

Vielleicht hat er recht. Vielleicht werden wir es erleben.

Lemberg, den 8. März, morgens

Auf dem Bahnhofsvorplatz in Lemberg herrscht Hochbetrieb. Überall Menschen, Kinder, Flüchtlinge, Helfer, Zelte, Infostände, Feuerstellen, Erste Hilfe, Schlangen, Busse, Straßenbahnen, Autos. Wenn jemand mit dem Zug aus dem Osten kommt und den Bahnsteig über den Tunnel verlässt, muss er im ersten Moment verwirrt sein. Es ist wie ein Ameisenhaufen. Und es gibt kein Zurück mehr.

Vor dem Haupteingang haben sich zwei lange Schlangen gebildet. Dort kann man sich anstellen, um in einen der Evakuierungszüge nach Polen einzusteigen. Die Züge fahren vom Bahnsteig 5; derzeit ist er nur für die Sonderzüge Richtung Westgrenze reserviert. Beide Schlangen bewegen sich kaum, es dauert mindestens vierundzwanzig Stunden, bis man im Waggon sitzt. Oder steht. Und wenn sie sich bewegen, dann nur für ein paar Schritte. Meistens hat man den Eindruck, dass die Nebenschlange sich schneller bewegt. Ganz im Sinne von Murphys‘ Gesetz. In Katastrophenzeiten wirkt es genauso wie in einer normalen Welt. Zumindest hat noch niemand das Gegenteil beweisen können.

Links vom Bahnhofsgebäude ist eine kleine Grünanlage, in der sich in friedlichen Zeiten oft ein paar Penner und Obdachlose umhertreiben. Jetzt kann man zu Recht behaupten: Jeder, der hier ankommt, ist obdachlos. Die Stände und Zelte der Helfer sind klar markiert und sofort sichtbar – hier ein Infostand, da warmes Essen für Mütter und Kinder, weiter links: heißer Tee, das Rote Kreuz, ein paar Zelte, in denen Erste Hilfe geleistet wird, Infos zu den Unterkünften, etwas weiter entfernt eine Reihe von Bio-Toiletten. Zwischen den Ständen mehrere Feuerstellen. Es sind große Eisenfässer, gefüllt mit Holz und Kohle. Da kann man sich aufwärmen. Die Ukrainer haben eine große Erfahrung damit. Schon während der beiden Revolutionen von 2004 und 2013/2014 hat man diese Techniken benutzt. Die Nächte sind besonders kalt, in der Regel herrscht da ein leichter Frost. In den nächsten Tagen soll es noch kälter werden…

Es ist eine logistische Meisterleistung, das System funktioniert. Nun stößt aber auch Lemberg allmählich an die Grenzen seiner Kapazitäten. Die Stadt mit etwas mehr als 700.000 Einwohnern hat mittlerweile 200.000 Flüchtlinge aufgenommen. Der Oberbürgermeister bittet nun vehement um weitere Hilfen. Die Unterkünfte reichen nicht mehr aus. Man brauche dringend große beheizbare Zelte.

Lemberg, den 7. März, abends

Sechsundzwanzig Stunden. Neunhundert Kilometer. Fünfzehn Personen. Ein Viererabteil. Ort der Handlung: ein Zug. Strecke: Krywyj Rih, Region Dnipro, Ostukraine – Lemberg Hauptbahnhof. Zwischenstationen: unbekannt. Aber immer wieder. Atemluft: eingeschränkt vorhanden. Anzahl der WCs pro Waggon: zwei. Anzahl der Abteile: neun. Anzahl der Fahrgäste (im Schnitt pro Abteil): siehe oben. Anzahl der Fahrgäste in den Gängen: Niemand zählt nach.

Meine schlimmste Erfahrung in einem total überfüllten Zug war bisher ein ICE von Hamburg nach Kassel. Ich stand die ganze Zeit auf anderthalb Beinen neben meinem Koffer im Einstiegsbereich. Eine Mutter mit dem Kinderwagen hätte, wenn sie irgendwo in der Mitte des Waggons säße und aussteigen wollte, kaum eine Chance gehabt. Aber von Hamburg nach Kassel schafft es die Deutsche Bahn, wenn sie sich nicht verfährt, in etwa zweieinhalb Stunden. Selbst wenn man die Verspätung einkalkuliert. Ich werde mich nie mehr über meine Reisen mit der Deutschen Bahn beschweren.

Wäre die Deutsche Bahn mit der Evakuierung dieses Ausmaßes überfordert? Ganz bestimmt. Jede Bahngesellschaft dieser Welt wäre überfordert. Auch die ukrainische ist es. Aber sie schafft es bisher immer wieder, die Menschen aus den gefährdeten Städten herauszubringen. Auch wenn ihre Züge in friedlichen Zeiten nicht so schnell fuhren wie ein ICE.

Die Menschen im Abteil erzählen ihre Geschichten. Eine ältere füllige Frau will nach Italien. Ihre Tochter arbeitet dort seit Jahren. Sie wird von einer anderen Frau begleitet, die selbst in Italien arbeitet und der Tochter versprochen hat, ihre Mutter mitzubringen. Offenbar hat die ältere Frau Herzprobleme, ihr geht nicht gut, sie atmet schwer. Zufällig fährt eine Ärztin im selben Abteil mit. Ein paar Tabletten helfen, zumindest vorübergehend. Viel mehr kann man nicht tun.

In der Nacht müssen die Jalousien voll herabgelassen werden, am Tag nur zur Hälfte. Unterwegs werden Kontakte ausgetauscht, die Menschen im Abteil bilden eine Gruppe im Viber-Messenger. In Lemberg steigen alle aus. Einige bleiben in der Stadt. Die anderen wollen weiter nach Polen. Mit einem anderen Zug oder in einem Bus. Die ältere Frau und ihre Begleiterin stellen sich am Ende einer langen Schlange an.

Julias Mutter kommt auch mit diesem Zug nach Lemberg. Sie ist die Ärztin, die in dem Abteil mitgefahren ist. Am nächsten Tag kommt im Chat die Nachricht, dass die ältere Frau gestorben ist. Am Grenzübergang. Sie hätte es beinahe nach Polen geschafft.

Lemberg, den 7. März, mittags

Offenbar fördert der Krieg die Tagebuchproduktion: Inzwischen schreiben viele Menschen Tagebücher. Ich höre das immer öfter von Bekannten und Fremden. In Berlin, Warschau, Lemberg, Kiew… Vielleicht auch in Charkiw. Verschiedene Menschen, diverse Stile, persönliche Emotionen, andere Erlebnisse. Ein Tagebuch in einer belagerten Stadt unter Raketenbeschuss ist anders als ein Tagebuch in Berlin. Muss anders sein. Und ein in Charkiw geschriebener Text wird sich stark von einem Tagebucheintrag aus Lemberg unterscheiden.

Was aber alle diese Texte gemeinsam haben – sie sind verdichtete Zeit, der Schrei einer verwundeten Seele, eine Art Therapie. Als hätte Edvard Munch die verschiedenen Versionen seines berühmten Gemäldes in verschiedenen Städten gemalt und dabei unterschiedliche Farbtöne, Pinselstriche und Techniken benutzt.

Auch Stanislaw (Stas) Asejew schreibt ein Tagebuch. Er schickt mir einige seiner Texte. Der ukrainische Journalist und Autor berichtete unter einem Decknamen aus seiner Heimatstadt Donezk, nachdem dort 2014 die russischen Marionetten ihr brutales Regime installiert hatten. Er wurde verhaftet, gefoltert und wegen „Spionage” zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Nach zweieinhalb Jahren im Foltergefängnis „Isolazija”, das auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik zur Herstellung von Dämmstoffen eingerichtet worden ist, kam er Ende 2019 bei einem Gefangenenaustausch frei. Im Volksmund ist das Gefängnis unter einem anderen Namen bekannt: „Donezker Dachau”.

Stas konnte gerade sein Leben in Kiew neu beginnen und seine Mutter aus Donezk herausholen. Ihm schien, als beginne der Planet Erde sich wieder zu drehen. Bis zum 24. Februar 2022. Bis zu jener Nacht, in der er von Einschlägen der Marschflugkörper auf den Straßen der ukrainischen Hauptstadt geweckt wurde. Die Mutter musste wieder innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Lebensnotwendigste packen und aus der Stadt fliehen.

Stas ist geblieben. Er gewöhne sich nun an das Gewicht einer Kalaschnikow und schreibe in den Feuerpausen, berichtete er vor etwa einer Woche. Er war fest entschlossen, seine neue Heimatstadt und sein Land zu verteidigen.

Inzwischen hat er sich an das Gewicht seiner Kalaschnikow offenbar gewöhnt. Und er schreibt weiter, während im Hintergrund die Sirenen heulen. Er hat viel zu sagen. Wir brauchen auch seine Stimme.

Lemberg, den 6. März, abends

Für mich gibt es einen großen Unterschied zwischen einem geschriebenen Text und einer Rede. Vielleicht weniger stilistisch, aber vor allem – emotional. Als meine Lektorin Katharina Raabe mich bat, bei der heutigen Solidaritätskundgebung auf dem Bebelplatz in Berlin per Online-Schalte etwas zu sagen, habe ich lange gezögert. Aber dann habe ich ungefähr Folgendes gesagt:

„Wenn es irgendwie hülfe, würde ich jene zwei oder drei Minuten lang, die für jeden von uns eingeplant sind, einfach nur das Wort ‚Flugverbotszone‘ rezitieren. Als Appell an alle Regierungen. Angriffe auf Wohnhäuser und Zivilisten gehören zu den schlimmsten Kriegsverbrechen. Sie werden weltweit geächtet. Für die russische Armee und den skrupellosen Diktator im Kreml sind sie nur ein taktisches Mittel, das sie nun regelmäßig einsetzen. Ohne jegliche Gewissensbisse. Um die Menschen zu ‚befreien‘, töten sie sie. Wie der gestern abgeschossene Killer-Pilot von Tschernihiw.

Wie viele unschuldige Menschen müssen noch sterben? Warum hat man Angst, Menschenleben zu retten? Glaubt man wirklich, dass dadurch ein größerer Konflikt – ach, schon wieder ein falsches Wort, wir müssen viele Wörter neu erfinden, selbst wenn man heute mit einem ‚Guten Tag‘ begrüßt wird, klingt es seltsam. Also: Glaubt man wirklich, dass man einen größeren Krieg verhindern kann, indem man Leben von unschuldigen Menschen opfert? Die Geschichte hat uns etwas anderes gelehrt. Tut alles, damit sich die Geschichte nicht wiederholt! Tut alles, was ihr tun könnt! Was ihr tun müsst! Und wir tun das, was wir tun können und müssen. Wir kämpfen weiter. Jeder mit seiner Waffe.

Die Welt, wie wir sie alle kannten, wird nie mehr zurückkehren. Wenn ich ältere, vor dem Krieg entstandene Texte lese, klingen sie für mich wie ein Nachruf auf die alte Welt. Wir wissen nicht, wer von uns überlebt – von uns Ukrainern, von uns Europäern, von uns Menschen auf dieser Welt, die dieses Namens würdig sind. Wir wissen nicht, wie die neue Welt aussehen wird. Aber es hängt auch von uns ab.“

Lemberg, den 6. März, frühmorgens

Heute früh hat mich ein Vogel geweckt. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Die modernen Thermofenster dämmen die Geräusche. Selbst das Heulen der Sirenen beim Fliegeralarm hört man nicht immer gut. Deswegen gibt es nun eine App. Man kann sie herunterladen, vom App Store oder von Google Play. Dann heult dein Smartphone beim nächsten Alarm mit maximaler Lautstärke. Willkommen im Krieg des 21. Jahrhunderts.

Vielleicht habe ich den Vogel erst gehört, als ich das Fenster aufgemacht habe. Ich bin kein Vogelkenner. Ich kann die Vogelrufe nicht wirklich einordnen. Ok, einen Kuckucksruf schon. Und den einer Nachtigall. Bei den anderen ist es schwieriger. Es war kein Kuckuck. Und keine Nachtigall.

Es ist noch dunkel, man sieht nicht wirklich was. Also braucht man ein Nachtsichtgerät. Oder eine Wärmebildkamera. Auf Amazon werden welche fürs „Birdwatching” angeboten, also für die Vogelbeobachtung. Die Ukrainer brauchen derzeit Kameras für anderes Wild. Zweibeinig, bewaffnet, aggressiv, unheilbar infiziert mit perverser Trikolor-Propaganda. Die nächste Stufe der Evolution. Solche Geräte bietet Amazon nicht.

Können die Vögel den Krieg spüren? Den Geruch verbrannter Erde, das Beben der Luft, die Angst der Menschen, das Zittern der Kinder? Sie hören ja bestimmt das Heulen der Sirenen, das Einschlagen von Raketen und Bomben, die Gewehrsalven der Kalaschnikows, das Dröhnen der Panzermotoren? Singen die Vögel noch in Kiew? Und in Charkiw? Singen die Vögel in den Feuerpausen? Singen sie im Morgengrauen? Oder sind sie dort schon alle weg?

Gestern wurde ein russischer Kampfjet über dem nordukrainischen Tschernihiw abgeschossen. Der Pilot, ein Major der Luftwaffe, konnte sich retten und wurde festgenommen. Er ist Angriffe auf Wohnviertel in Tschernihiw geflogen. Für ihn waren es keine Wohnhäuser, in denen Menschen leben, nur Ziele mit eingegebenen Koordinaten. Perfekte Ausbildung eines Schlächters. Er hat schon in Syrien Zivilisten getötet: Auf einem Foto steht er stolz neben dem syrischen Diktator Assad.

Die Nacht war in den meisten Regionen relativ ruhig. In Charkiw nicht. Heute Nachmittag werden ukrainische Autorinnen und Autoren während einer Großkundgebung in Berlin zugeschaltet. Die Stimmen aus der Ukraine wird man in Deutschland live hören. Wie viele Menschen sterben noch bis dahin?

Man kann nun für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef direkt vom Smartphone spenden. „Für die Unterstützung der Familien, die von der Krise in der Ukraine betroffen sind”. Einer KRISE? Ich dachte, die ganze Welt hat schon verstanden, dass es sich um einen russischen Überfall und Angriffskrieg gegen mein Land handelt. Um ein Kriegsverbrechen.

Der Vogel vor meinem Fenster singt weiter. In Lemberg scheint die Welt der Vögel noch in Ordnung zu sein.

Lemberg, den 5. März, morgens

Bevor ich um drei Uhr nachts ins Bett gehe, checke ich noch einmal die Nachrichtenlage. Zwei Meldungen geben Anlass zum vorsichtigen Optimismus. Die westlichen Medien berichten, dass der russische Angriff auf Kiew und Charkiw ins Stocken geraten ist. Russland habe im Moment kaum noch Reserven, um weiter vorzurücken. Man könne sie zwar mobilisieren, die Logistik sei aber schwierig. Ich weiß nicht. Meine Freunde in Kiew bestätigen, dass die Nacht relativ ruhig war.

Die zweite Nachricht: Das Pentagon sei erstaunt, wie effektiv die ukrainischen Streitkräfte die gelieferte Ausrüstung nutzen. Dazu meldet das Recherchenetzwerk Bellingcat, dass die Verluste der russischen Armee in der Ukraine durchaus bis zu 10.000 Mann betragen könnten. Aber das ist wohl kein Argument für den Kreml. Nie gewesen.

Die andere Nachricht ist nicht so gut. Die schweren Luft- und Raketenangriffe auf ukrainische Städte gehen weiter. Bis jetzt haben die Russen bereits mehr als 500 Raketen verschossen. Wie viele haben sie noch auf Lager? Können sie nachliefern? Wie schnell? Und dann noch die Flugzeuge. Etwa vierzig Maschinen wurden bereits abgeschossen, zu Beginn des Angriffs hat das russische Militär Expertenschätzungen zufolge etwa 450 Kampfflugzeuge an die ukrainischen Grenzen verlegt. Kiew fordert seit Tagen eine Flugverbotszone. Die Nato lehnt ab. Wie viele Zivilisten müssen noch sterben?

Immer mehr Menschen fliehen in den Westen. Die Szenen aus den Evakuierungszügen erinnern an Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg. Nur dass in den proppenvollen Waggons wild telefoniert und getextet wird. Flüchtlingen von damals müsste das wie eine Szene aus einer anderen Welt vorkommen. Aber es ist immer noch dieselbe Welt. Und das gleiche Leid.

Julia ist seit heute Morgen in Lemberg. Ich habe sie abgeholt. Sie muss nicht mehr in die Badewanne springen. Sie kann duschen. Das Philosophiebuch von Ayn Rand hat sie mitgenommen. Ihr Freund und die Katze sind in Kiew geblieben. Wenn wir eine Katze aufnehmen, werden wir sie Javelin nennen.

Lemberg, den 4. März, abends

Tanken und schreiben gleichzeitig geht nicht. Also zuerst tanken, dann schreiben. Der Sprit wird immer noch rationiert, aber die Schlange ist nicht sehr lang. Man bekommt maximal zwanzig Liter. Zahlen kann man nur mit Karte. Das Superbenzin kommt aus Litauen. Oder aus Rumänien. Man weiß es nicht genau. Ist teurer geworden, aber keine Katastrophe. Der Fahrer an der Zapfsäule daneben fängt an zu diskutieren, er hat wohl nur Bargeld. Ich muss los.

Es gibt Geschäfte, wo man nur mit Karte zahlen kann, und welche, die nur Bargeld akzeptieren. In anderen geht beides. Das ist ein Problem. Du musst dich entscheiden, womit du bezahlst. Notfalls kann man eine Münze werfen.

Brauchst du in den nächsten Tagen mehr Bar- oder eher mehr Plastikgeld? Die Gefahr bei der Karte ist, dass sie nicht immer funktioniert. Gestern wurde berichtet, dass Kunden einiger Banken mit ihren Visa-Karten nicht bezahlen konnten. Und wenn du zu viel abhebst, reicht möglicherweise das Guthaben auf der Karte nicht aus. Aber das sind Luxusprobleme.

Inzwischen wird die Hektik des Kriegsalltags im Hinterland als ganz normal empfunden. Die Helfer arbeiten rund um die Uhr, die Flüchtlinge kommen auch im 24/7-Rhythmus an. Die Wechselstuben sind wieder geöffnet, die ukrainische Währung ist zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent billiger geworden. Nicht sehr gut, aber angesichts der Lage keine Tragödie. Die Preise auf dem Markt sind leicht gestiegen, türkische Mandarinen aber sind billig zu haben.

Medikamente kann man nicht mehr vorbestellen und in einer Apotheke deiner Wahl abholen. Immerhin gibt es einen Internet-Service, wo man sehen kann, in welcher Apotheke wie viele Packungen von dem gewünschten Arzneimittel vorhanden sind. Und zu welchem Preis. Wenn nur eine Packung auf Lager ist und jemand schneller war, dann Pech gehabt. Muss man halt zur nächsten Apotheke laufen. Aber die gängigsten Medikamente sind da. Insulin und Krebspräparate werden nun von Hilfsorganisationen geliefert. Die kleinen Lebensmittelgeschäfte funktionieren immer besser. Ein recht luxuriöses Dasein, wirklich.

Man gewöhnt sich schnell. An alles. Sogar an Windeln, wie ein junger Vater in meinem „Praktischen Sprachlehrgang Norwegisch“ von Langenscheidt erzählt. Man findet dort viele nützliche Wörter und Redewendungen. Aber viele Begriffe fehlen. Das Kriegsvokabular zum Beispiel. Vielleicht arbeiten schon einige Verlage daran. Man wird es wohl in Europa in den nächsten Jahren brauchen.

Lemberg, den 4. März, morgens

Heute muss ich Medikamente für eine Hilfsorganisation abholen. Unter anderem. Eigentlich kein besonders schwieriges Unterfangen. Das Problem ist nur, dass das Verteilzentrum außerhalb der Stadt liegt. Dort ist in der Nacht ein Lkw aus Deutschland angekommen. Also muss man durch einen Checkpoint. Das kann dauern. Und der Lkw wird nicht unendlich warten.

Den Anruf habe ich schon erwartet. Also gleich losfahren. Die Stadt ist leer, um neun Uhr sind weniger Autos unterwegs, als in Friedenszeiten an einem normalen Wochenende um sechs. Aber auf der Ausfallstraße staut sich eine kilometerlange Schlange. Es geht nur im Schritttempo voran, zeitweise bewegen sich die Autos mehrere Minuten lang nicht von der Stelle. Wie nach einem Unfall auf der Autobahn. Nur dass es diesmal keinen Unfall gegeben hat. Eher eine Katastrophe. Auf der Weltautobahn. Schaffe ich es überhaupt noch?

Nach etwa einer Stunde sieht man Sandsäcke, Panzerigel, Absperrungen und Autoreifen. Kontrolliert wird nur stichprobenweise. Strenger Blick ins Wageninnere. Ich darf weiterfahren. Nach dem Checkpoint ist die Straße leer. Dann sind es nur noch ein paar Minuten bis zum Ziel. Als ich da bin, haben die Helfer schon mit dem Ausladen angefangen. Geschafft.

Der Weg zurück sieht ähnlich aus. Ich nehme eine andere Route, in der Hoffnung, dass es vielleicht schneller geht. Es geht nicht schneller. Es geht langsamer, weil man in Richtung Stadt strenger kontrolliert wird. Eine Spur wird für Spezialfahrzeuge reserviert. Scheinwerfer aus, Scheiben runter, keine Fotos erlaubt (wer macht hier schon Fotos!), Mobilfunksignal wird gestört. Ich muss mich ausweisen. Man fragt mich, ob ich Waffen mitführe. Nein, nur Medikamente. Ich darf weiterfahren.

Beim Verlassen des Checkpoints sehe ich ein Plakat auf Russisch. Dort steht auf schwarzem Hintergrund, dass russische Soldaten hier unerwünscht sind. Putin hat verloren, die ganze Welt steht hinter der Ukraine. Ich hätte mir nie im Leben vorstellen können, dass ich so etwas in der Nähe von Lemberg jemals sehen würde. Nicht mal in einem Albtraum.

Lemberg, den 3. März, abends

Vor vielen, vielen Jahren, als der Kommunismus weltweit seine größte Ausdehnung erreichte, aber als Ideologie bereits tot war, wuchsen wir in Galizien mit einer klaren Vorstellung von sowjetischer Propaganda auf. Die Betriebsanleitung für den Umgang mit den Informationen, die von den parteitreuen Medien – andere gab es damals nicht – verbreitet wurden, war verblüffend einfach und bestand aus lediglich zwei Punkten. Punkt eins: Die Sowjets lügen immer. Punkt zwei: Wenn sie nicht lügen, müssen sie das beweisen.

Diese Grundeinstellung bot zwar keine absolute Immunität gegen die Lügen und Fantasien über eine heile kommunistische Zukunft mit allgemeiner Gleichheit – besser gesagt Gleichschaltung – für alle, die man nicht zuvor vernichtet hat. Aber sie bot immerhin einen gewissen Schutz. Dieser Schutz gegen Propaganda könnte mit der Wirkung eines Impfstoffes gegen Corona verglichen werden – man kann zwar erkranken, ein schwerer Verlauf (wie einst bei den Linken und später bei den Russland-Verstehern) ist eher unwahrscheinlich.

In historischen Quellen wird das westukrainische Galizien als Ostgalizien bezeichnet. Das ist schon verwirrend genug. Die meisten Westeuropäer sind aber schon glücklich, wenn sie diese von literarischen Mythen umwobene Region vom spanischen Galizien unterscheiden können. Die relative Immunität der Galizier gegen die Sowjetlügen wurzelt in der Geschichte, vor allem in den ersten beiden Jahren des Zweiten Weltkrieges und den Gräueltaten des NKWD nach der sowjetischen Besatzung im September 1939. Die noch schlimmeren Gräueltaten der Nazis folgten kaum zwei Jahre später. Die Sowjets wurden hier nach dem Krieg immer als eine Besatzungsmacht gesehen – wie in den baltischen Staaten oder in anderen Ländern Osteuropas.

Im heutigen Russland gibt es keine kommunistische Ideologie mehr. Es hat sich aber erwiesen, dass ein Cocktail aus Staatskapitalismus, Korruption, Revanchismus und von Lügen getränkten sozialen Netzwerken viel aggressiver und ansteckender ist als der Kommunismus mit seiner recht primitiven Propaganda. Es scheint, dass der Westen mittlerweile diese Lektion gelernt hat. Ob die neu gewonnene Immunität gegen die russischen Lügen die Welt retten wird, ist schwer zu sagen. Die Ukrainer zahlen heute den höchsten Preis für die jahrzehntelange Blindheit westlicher Demokratien. Die Bilder von zerstörten Wohnhäusern in Charkiw und Kiew bedürfen keiner Kommentare.

Lemberg, den 3. März, frühmorgens

Ja? Ok. Bin im Kontakt mit dem Fahrer. Wann abholen? Heute Abend? Kann sein, dass man es nicht bis zur Ausgangssperre schafft. Eher morgen? Passt. Super. Danke. Ja, Überweisung. Macht eine Testüberweisung, mal sehen, ob’s funktioniert. Nein, geht nicht, für Schutzwesten braucht man eine Lizenz. Über die Regierung, ja. Schluck Wasser. Ja, ein Bus. Ein deutscher Bus. Fährt zurück nach Deutschland.

Wann? In zwei Stunden. Sieben Plätze frei. Vielleicht schafft es jemand. Weiß nicht. Von meinen Bekannten will keiner gehen. Nein. Ich versuch’s. Linke Socke. Wie kann ich das verschicken? Rechte Socke. Funktioniert die Logistik noch? Raus aus dem Bett. Hemd, Hose, Pulli. Helme? Was für Helme? Schutzhelme, aber keine ballistischen? Ok, kein Schutz gegen Kugeln, aber immerhin ein Schutz. Ja, jemand wird den Transport organisieren. Kaffee aus dem Küchenschrank holen. Sachspenden? Ja, aber nicht alles wahllos. Medikamente, klar. Schick‘ gleich ‘ne Liste. Wer hat schon wieder den Kaffee aus dem Küchenschrank geklaut? Ja, Odessa und Kiew. Die brauchen es derzeit am dringendsten.

Guten Morgen, wie war die Nacht in Kiew? Explosionen, aber sonst geht’s. Charkiw? Raketen. Wann? Nächste Woche. Woher? Bulgarien. Oder Rumänien. Mal sehen. Passt, wir versuchen es. Schluck Kaffee. Ja, es sind Zehntausende hier. Warme Küche? Ja, für zweitausend. Adresse, mache ich. Scheibe Brot. Tuat mia lait. Tut mir leid, sorry, mein Mund war voll. Ich kann nicht über die Weltordnung per Schalte diskutieren. Es geht nicht, auch emotional nicht. Ich schick’ Ihnen eine Nummer. Bitte nicht zu kompliziert machen. Immer nur einen Zielort. Sehr geehrter Herr K. Herzlichen Dank für … Was soll man auf die Kisten schreiben? Nur den Vornahmen? … für Ihre großzügige Hilfe. Was machst du denn, es ist ein anderer Chat. So, jetzt richtig. Der fährt um fünf los, aber keine Garantie. Keine Ahnung, wie lange es an der Grenze dauert. Welcher Grenzübergang? Noch nicht klar? Dann sag mir später Bescheid.

Koordinieren. Organisieren. Chatten. Mailen. Texten. Telefonieren. Surfen. Kommentieren. Diskutieren. Abholen. Verschicken. Schreiben. Streiten. Trösten. Zähne putzen.

Lemberg, den 2. März, abends

Bemerkenswert, dass es in dieser Situation in der Ukraine immer noch Meinungsumfragen gibt. Die öffentliche Meinung über den modernen Krieg. Live und hochaktuell. Mobilfunk macht es möglich. Das Verfahren heißt „Computerunterstützte telefonische Befragung“. Das geht ungefähr so: Du nimmst den Anruf entgegen, die Rufnummer ist entweder unterdrückt oder zumindest unbekannt, und du freust dich über die freundliche Stimme einer Dame, die irgendwelche Fragen stellt und dich sogleich bittet, eine entsprechende Ziffer auf dem Bildschirm zu drücken. Ist immerhin besser, als mit einer Hotline zu plaudern, wenn du nach etlichen Minuten Warteschleife und viel Muzak gerade noch weißt, welche Frage du loswerden wolltest. Du weißt aber auch, dass die Antwort dir nicht wirklich weiter helfen wird.

Die Ergebnisse der Umfrage vom 1. März – wenn sie tatsächlich stimmen – sind erstaunlich. Nach sieben Tagen Krieg und Zerstörung glauben knapp 90 Prozent der Menschen in meinem Land, dass die Ukraine den russischen Angriff zurückschlagen wird. Fast alle stehen geschlossen hinter den Streitkräften und dem Präsidenten, 80 Prozent sind bereit, mit Waffen zu kämpfen. 86 Prozent wollen in die Europäische Union und drei von vier Befragten – in die Nato. Selbst im Osten wollen mittlerweile mehr als die Hälfte der Ukrainer in das transatlantische Bündnis aufgenommen werden. Die russische Medizin zeigt Wirkung.

In mehreren Regionen Russlands sind seit Kriegsbeginn die Google-Anfragen mit Suchbegriffen wie „Verluste”, „Gefallene” oder „Gefangene” deutlich gestiegen. Seit gestern dominiert bereits die Suche nach Gefallenen. Die an den internationalen Börsen notierten russischen Unternehmen sind nichts mehr wert. Eine Sberbank-Aktie kostete heute Vormittag gerade noch paar Cent.

In der Schweiz diskutiert man über die Zukunft der Kryptowährungen. In der Ukraine konnte ich dazu keine aktuellen Umfragen finden.

Lemberg, den 2. März, mittags

Immer wieder schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Was machst du eigentlich? Ist das überhaupt richtig? Kann man was anderes tun? Was Wichtigeres? Kann man mehr tun? Auch wenn du versuchst, 10.000 Sachen gleichzeitig zu erledigen? Schreibst du nur, um nicht verrückt zu werden? Was ist das zum Teufel für ein Tagebuch, wenn halb Charkiw in Schutt und Asche bombardiert wird?

Muss man den Menschen in Deutschland überhaupt noch etwas erklären, wenn man die Bilder sieht? Wenn russische Raketen in Babyn Jar einschlagen, einem Ort, der für das Holocaust-Verbrechen als Mahnung dient?

Die Russen versuchen nun offenbar, die Bevölkerung Charkiws mit Raketenbeschuss zu terrorisieren. Zivile Opfer spielen für sie keine Rolle. Oder doch: je mehr davon, desto besser. Ein Blogger argumentiert: In Tschetschenien hat die russische Armee eine ähnliche Taktik angewendet. Am Anfang kämpfte sie dort gegen die Guerilleros, ohne größeren Erfolg. Die russischen Soldaten waren nicht besonders motiviert und ergaben sich oft.

Anfangs wurden sie von Tschetschenen als Kriegsgefangene ordentlich behandelt. Nach Luftangriffen gegen Zivilisten und dem Auslöschen ganzer Städte wurden sie nicht mehr gefangen genommen, und wenn ja, gab es Schau-Exekutionen. Der Terror gegen Zivilisten hat somit die Kampfmoral der russischen Armee gesteigert. Als Nebenwirkung sozusagen: Sich zu ergeben war keine Option mehr. Kann es sein, dass man in der Ukraine auch darauf setzt?

Das Rathaus von Charkiw nach Granatenbeschuss

Quelle: dpa

Die Verbindung nach Kiew kann jederzeit abbrechen. Das Fernsehen funktioniert nur noch übers Internet oder per Satellit, terrestrische Signale können nach dem Angriff auf den Sendemast nicht mehr empfangen werden. Handys funktionieren immer noch, und Elon Musk ermöglicht nun den Zugang zum satellitengestützten Kommunikationsnetzwerk Starlink. Geld abheben an Geldautomaten geht in Kiew nur noch selten und an wenigen Stellen. In manchen Supermärkten kann man mit Karte zahlen, in anderen nur mit Bargeld.

Das russische Verteidigungsministerium wird in „Angriffsministerium“ umbenannt. Keine Panik. Das war ein Gag.


Lemberg, den 1. März, abends


Es tut gut, viele Freunde in aller Welt zu haben. Viele melden sich bereits in den ersten Stunden, noch mehr am ersten Tag des Überfalls. Sie sind bestürzt, fassungslos, fühlen sich ohnmächtig, sind in Gedanken bei uns. Viele bieten auch einen Unterschlupf an.

Ich weiß gar nicht mehr, ob ich in diesem Tsunami von Meldungen aller Art jede beantwortet habe. Es tut mir leid, wenn ich irgendjemand vergessen habe. Man möge mir verzeihen, es ging einfach nicht.Eigentlich mag ich Europa sehr. Wie viele Länder habe ich bereits besucht? Dreißig? Vierzig? Ich weiß es nicht mehr. Ich mag die gebrochene Linie norwegischer Fjorde, das flache Licht Finnlands, die Öresund-Fähren, welche die Einheimischen nutzen, um sich mit steuerfreiem Alkohol zu betanken, die Strenge der Halligen im Spätherbst, polnische Seen und Wälder, die Geschäftigkeit Berlins, das Gefühl der Hilflosigkeit auf den Britischen Inseln, wo man immer wieder beim Überqueren der Straße den Kopf in die falsche Richtung dreht, die Wohnboote der Holländer, die Luftströme in den Alpen, die dich bei einem Gleitschirmflug tragen, den Sprachensalat der Schweizer, die Unkompliziertheit der Italiener, die leichte Überheblichkeit der Franzosen oder die Brücken von Istanbul. Nun ist unsere Reise von Nord nach Süd zu Ende. Man hätte genauso gut auch eine andere Route nehmen können.

Einmal habe ich sogar geträumt, wie meine Asche über der Nordsee vom Winde verweht wird. Wahrscheinlich habe ich mir am Abend davor „The Big Lebowski“ angesehen.

Und dann noch die Häfen – jeder mit seinem eigenen, unverwechselbaren Flair, aber alle mit einem besonderen Gefühl der Freiheit und kosmopolitischem Stolz. Das einzige, was Lemberg fehlt, ist ein Hafen. Legenden zufolge, also in einer Zeit, die niemals existierte, soll es hier auch einmal einen großen Fluss gegeben haben. Heute ist es nur ein kleines Bächlein, das die Österreicher vor 150 Jahren aus hygienischen Gründen unter die Erde verbannt haben. Hätten wir aber einen Hafen gehabt, wäre der Aufstieg Lembergs zu einer Weltmetropole unaufhaltbar gewesen.

Zählte ich alle Einladungen, die schwierigen Zeiten im Ausland zu überwintern, zusammen und nähme ich jede für nur eine Woche in Anspruch, könnte ich wahrscheinlich mindestens zwei Jahre lang Urlaub machen. Das mache ich vielleicht tatsächlich. Irgendwann in der Zukunft.

Aber heute gehen wir nicht. Nicht, weil Männer im wehrfähigen Alter das Land nicht verlassen dürfen. Und nicht, weil man im Moment hier im Westen des Landes noch in ziemlicher Sicherheit ist. Es wäre einfach ein Verrat an Menschen, die gestorben sind oder alles verloren haben. Die Bilder von CNN oder Reuters bestätigen dies jede Minute. Man könnte einfach den anderen nicht in die Augen schauen, wenn man weg gewesen wäre und erst zurückkehren würde, nachdem alles vorbei ist. Wir werden nur dann gehen, wenn es unser Land nicht mehr gibt. Aber wir sind gerade dabei, das zu verhindern. So tun alle, was sie nur können. Frauen mit kleinen Kindern, Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben müssen sich ins Ausland retten. Wir nicht.

Frauen in Kiew auf der Flucht - (Quelle: AFP)

Die gesamte Welt macht nun alles, um uns zu helfen. Na ja, fast alles. Wenn wir es aber überleben – wir Ukrainer, aber auch alle Europäer, die gesamte Welt, der Planet Erde oder was sich sonst noch in dieser Galaxie um sich selbst dreht –, wenn Menschlichkeit, Vernunft, Freiheit und Menschenwürde (also alles, was heute in einem verrückt gewordenen Zehntel der Landfläche auf dieser Erde gar nichts mehr zählt) nicht endgültig zugrunde gehen, und wenn ihr danach wieder mit Diskussionen anfangt und uns nicht so schnell wie möglich in die Europäische Union aufnehmt – werden wir euch das nie verzeihen. Niemals.

Ich habe gerade festgestellt, das von allen Wörtern in diesem langen Text das Rechtschreibprogramm meines Computers nur drei nicht versteht: Gleitschirmflug, Sprachensalat und Unkompliziertheit. Und noch Lebowski dazu. Damit kann man gut leben.

Lemberg, den 1. März, mittags

Kollegen aus Warschau schreiben mir, dass man in Lemberg bei Booking.com zwei Zimmer für 3.000 Euro buchen kann. Ob es für eine Nacht ist oder für zwei, sagen sie nicht. Ist auch egal. Vielleicht ist es ein Sonderpreis für Polen. Vielleicht gibt es sogar Rabatte für Flüchtlinge. Aber die Preise liegen … na ja, etwas über dem Durchschnitt, der sonst um diese Jahreszeit üblich ist. Und für alle anderen Jahreszeiten übrigens auch. Es gibt nicht nur einen Katastrophenjournalismus, sondern auch eine Katastrophenhotellerie.

Das letzte Mal gab es hier einen sprunghaften Preisanstieg für Unterkünfte 2012 – während der Fußball-Europameisterschaft. Für die EM hat man in Lemberg sogar ein nagelneues modernes Stadion errichtet. Seitdem wurde in der Arena Lviv nur noch selten Fußball gespielt. Immerhin konnte man für das Stadion eine anderweitige Verwendung finden: Auf dem Event-Programm stehen Rock- und Popkonzerte, Abi-Feten, Hochzeiten, Gokart-Rennen, Zeugen-Jehovas-Kongresse und andere ähnliche Veranstaltungen. Ups, ich wollte sagen „STANDEN“. Heute befindet sich in der Anlage ein riesiges Aufnahmezentrum für Flüchtlinge.

Kriegsflüchtlinge am Lemberger Bahnhof am 26. Februar

Quelle: AFP

Von den Bettkosten im zentralukrainischen Uman sind aber die aktuellen Lemberger Preise noch weit entfernt. In die etwa 80.000 Einwohner zählende Stadt pilgern im Herbst am jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana zehntausende von Chassiden zum Grab von Rabbi Nachmann, dem Begründer des Brazlawer Chassidismus. Für paar Tage in einer kleinen Wohnung verlangt man angeblich 10.000 US-Dollar.

Ob Chassiden auch in diesem Jahr zur Grabstätte ihres 1810 verstorbenen Wunderrabbi pilgern werden, bleibt ungewiss. Berichten zufolge wurde neulich in der Nähe eine russische Armeekolonne gesichtet. Beobachter bezweifeln aber, dass sie sich auf einer Pilgerreise befinden könnte, und vermuten deswegen, dass es sich womöglich um eine Falschmeldung handelte.

Die Stadt Uman wurde in den vergangenen Tagen von russischen Raketen beschossen. Ein Fahrradfahrer kam dabei ums Leben. In zahlreichen Städten in der Ostukraine gibt es inzwischen keine Zimmerpreise mehr. Und keine Hotels.

Lemberg, 28. Februar, abends

Julia hat mir heute ein Foto geschickt. Sie sitzt in der Badewanne. Nein, es ist nicht das, woran ihr denkt. Sie nimmt kein Bad. Voll bekleidet, auf dem Kopf ein Safarihelm, oben drauf eine Schutzbrille. War halt ein Set. Um sie herum ein paar Kissen, das Smartphone hält sie in der Hand. In der Ablage, wo normalerweise Badeutensilien liegen, ein Buch von Ayn Rand: „Philosophie: wer braucht das schon?“ Im normalen Leben war sie Kulturmanagerin.

In den letzten Tagen musste sie in ihrer Kiewer Wohnung ein paar Dutzend Mal in die Badewanne springen. Bei jedem Fliegeralarm. Einen Luftschutzbunker im Haus gibt es nicht, der Keller hier ist nicht dazu geeignet. Eventuell könne man zur nächstgelegenen U-Bahn-Station laufen, die Kiewer Metro wurde längst in einen Luftschutzbunker umfunktioniert. Für den Weg dahin braucht man allerdings mindestens zwanzig Minuten. Lohnt es sich? Was ist gefährlicher – bleiben oder laufen? Und wohin mit der Katze? Also haben sich Julia und ihr Freund zu bleiben entschieden. Die Wohnung ist im fünften Stock. Man hört, wie die Nachbarn die Treppen heruntertrampeln. Danach gespenstische Stille. Nur die Sirenen heulen. Man weiß nicht, ob überhaupt jemand da ist. In der Ferne hört man Explosionen. Kiew ist eine große Stadt. In Julias Bezirk gab es bisher keine Einschläge.

Wir telefonieren heute lange miteinander. Dieser Austausch ist für beide wichtig. Für sie, die direkt von Angriffen in einer belagerten Stadt bedroht ist, und für mich, der zu Hause in relativer Sicherheit sitzt, Texte schreibt und oft hinter den geschriebenen Zeilen seine Ohnmacht verbirgt.

Absurdität des Kriegsalltags: Auf der Suche nach einem sicheren Ort in Kiew flüchtet Julia bei jedem Luftalarm in ihre Badewanne

Quelle: Juri Durkot

Nach drei Tagen totaler Ausgangssperre lebte Kiew am heutigen Vormittag wieder auf. Die Autos fuhren wieder, allerdings nur wenige, einige Geschäfte öffneten. Also schnell Lebensmittelvorräte auffrischen. Drei Tage lang durfte man ja nicht auf die Straße. Wer nicht genug zu essen hatte, musste hungern oder die Nachbarn um Hilfe bitten. Falls sie etwas übrig hatten…

Eine halbe Stunde nach unserem Gespräch schlug am Stadtrand von Kiew wieder eine Rakete ein. Offenbar ändert die russische Armee nun ihre Taktik. Die ukrainischen Streitkräfte konnte sie nicht besiegen, nun fängt sie mit dem Terror gegen die Zivilbevölkerung an. Wie ein ukrainischer Künstler gestern voller Emotionen sagte: Damit die Parallele zwischen Hitler und Putin perfekt ist, fehlt nur eins – Putin muss sich in seinem Bunker erschießen.

Lemberg, den 28. Februar, mittags

Es ist wieder Winter in Lemberg. Gestern Abend hat es sogar geschneit. Gegen drei Uhr nachts reißt mich mein Sohn wieder aus dem Schlaf. – Was? Schon wieder? Ein Weltkrieg vielleicht?

Nein. Sein Freund Andrij hat ihn in Panik angerufen. Ein besoffener Nachbar ist dabei, die Wohnungstür einzuschlagen und droht ihn umzubringen. Andrij ist allein zu Hause. Er wisse nicht, wie lange die Tür standhält. Mein Sohn hat bereits die Polizei alarmiert. Wie lange wird sie unterwegs sein? Ich kann das rechte Hosenbein nicht finden. Es hat sich irgendwo versteckt. Warum leben die Klamotten in der Nacht ein eigenes Leben? Ok, ich hab’s. Jetzt los. Wir eilen Andrij zu Hilfe. Er meldet sich nicht mehr am Telefon. Auf der Straße rutsche ich auf dem Glatteis immer wieder aus. Es ist nicht weit, nur fünf Minuten laufen, dann rechts die Treppe hoch, da windet sich schon Andrijs Straße in engen Kurven den steilen Hügel hinauf. Viele Häuser sind hier noch aus der Gründerzeit. Kein Sowjeterbe weit und breit.

Als wir uns dem Haus nähern, steht die Polizei schon unten. Drei Mann, schwer bewaffnet. Es ist alles vorbei. Sie haben den Mann zur Ruhe gebracht. Die Polizisten mustern uns mit strengen Blicken und weisen darauf hin, dass nachts Ausgangssperre ist. Haben aber auch Verständnis dafür, dass wir in der Gegend herumlaufen. Wir müssen uns nicht einmal ausweisen. Meinen Personalausweis habe ich sowieso vergessen. Wir bedanken uns dafür, dass sie so schnell reagiert haben und gehen nach Hause. Andrij entscheidet sich, in seiner Wohnung zu bleiben. Gegen fünf schlafe ich endlich ein.

Es war die erste Nacht ohne schwere russische Angriffe auf die ukrainischen Städte seit dem Überfall. Am Vormittag geht es wieder los. Schwerer Beschuss mit Raketenwerfern in Charkiw. Ziele: mehrere Wohnviertel. Es werden Tote und Verletzte gemeldet. Eine ukrainische Delegation verhandelt an der ukrainisch-belarussischen Grenze mit einer russischen. Worüber?

Lemberg, den 27. Februar, nachmittags

Das verschlafene Städtchen Bibrka, etwa dreißig Kilometer von Lemberg entfernt, kaum viertausend Einwohner. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten hier über 2.000 Juden, die Nazi-Herrschaft überlebte kaum jemand aus der Gemeinde.

Vor etwa einem Jahr hat mich Wolodymyr gebeten, ihm beim Entziffern eines alten polnischen Stadtplans aus 1930er-Jahren zu helfen. Besonders eine Abkürzung bereitete uns damals Kopfzerbrechen: Das Wort sah wie Szeka aus. Niemand konnte damit etwas anfangen. Es ist kein polnisches Wort, und es kann auch keins davon abgeleitet werden. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis jemand in einem Forum auf die Idee kam: Das Wort stammt aus dem Hebräischen und könnte „Senke, Vertiefung“ bedeuten. Tatsächlich lag einst am Fuße eines Hügels ein alter jüdischer Friedhof. Ob es die richtige Erklärung ist, bleibt ungeklärt.

Heute hat der Hobbywinzer Wolodymyr keine Zeit, um sich mit der Stadtgeschichte zu befassen. Aber um seinen Weinberg kümmert er sich immer noch. Nun hat ihn die Gemeinde gebeten, bei der Herstellung von Panzerigeln zu helfen. „Mein Anhänger war voller Gerätschaften, als der Anruf kam. Also raus damit, Stahlträger rein, losgefahren!“ In einer kleinen Werkstatt werden die Metallstücke geschnitten und zusammengeschweißt.

In Bibrka bauen Helfer Panzerigel aus Stahlträgern

Quelle: Juri Durkot

Die Landwehr in der Region Lemberg braucht Wärmebildkameras oder Nachtsichtgeräte, um Wälder und Straßen zu kontrollieren. In der Nacht kann man bekanntlich ohne ein Nachtsichtgerät schlecht sehen.

Spielt Putin jetzt mit dem Nuklearknopf? Er führt sich auf wie ein beleidigtes, hysterisches Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat. Welchen Preis ist er bereit zu zahlen? Am Nachmittag kommt die Meldung, dass die Antonow An-225, das größte Frachtflugzeug der Welt, bereits beim russischen Luftangriff auf den Flughafen Hostomel am 24. Februar zerstört wurde, also am ersten Tag der Invasion. Es war das einzige Exemplar.

 

Verteidiger von Kiew bei der Pause

Quelle: AP

Die Obdachlosen in Dnipro bieten ihre Hilfe an: Sie wollen leere Flaschen für Molotowcocktails einsammeln.

Lemberg, den 27. Februar, mittags

Als Erstes sehe ich am heutigen Morgen die Meldung, dass russische Truppen in Charkiw sind. Es wird über schwere Kämpfe berichtet. Scheiße. Nach einigen Stunden scheint es, dass die ukrainische Armee die Stadt wieder unter Kontrolle hat. Aber die Lage bleibt kritisch. Kiews Oberbürgermeister Vitali Klitschko meldet einzelne Scharmützel mit Sabotage- und Aufklärungsgruppen in der Nacht; keine russischen Truppen in der Stadt. Seit Kriegsanfang sind zehn Zivilisten in Kiew gestorben, weitere 47 wurden verletzt.

Kaum Nachrichten aus dem Süden. Mariupol bleibt aber unter ukrainischer Kontrolle. Die Versorgungslage in Lemberg scheint sich langsam zu verbessern. Vor allem die kleinen Geschäfte bekommen nun Lebensmittel aus Polen. Was würden wir denn ohne Polen überhaupt machen? Die großen Supermarktketten haben es schwieriger. Viele Lieferketten sind unterbrochen.

 

Schießtraining am Gymnasium in Lemberg

Quelle: picture alliance / Photoshot

Es gibt Gerüchte, dass Lukaschenko womöglich seine Truppen in die Ukraine schicken wird. Noch ein verrückter Verbrecher. Bislang flogen nur Raketen vom belarussischen Gebiet. Abgesehen davon, dass die russische Armee ihre Invasion nicht nur aus Russland, sondern auch aus Belarus begonnen hat. Heute war die erste Nacht ohne Fliegeralarm in Lemberg.

Lemberg, den 26. Februar, abends

Das Leben hat meinen alten Schulfreund Oleh in den ukrainischen Süden verschlagen, dorthin, wo die Tomaten wachsen. Nicht alle meine Freunde heißen Oleh; die Tatsache, dass ich diesen Namen im Tagebuch schon zum zweiten Mal verwende, kann zweierlei bedeuten: Entweder ist es ein Beweis dafür, dass ich die Menschen nicht erfinde, oder dass ich keine Fantasie habe.

In der Schule haben wir mit ihm zusammen Fußball gespielt – die politischste aller Sportarten. Nur wussten wir es damals nicht. Gestern hat es selbst der UEFA gedämmert: doch kein Champions-League-Finale in Sankt Petersburg.

Oleh wollte immer in den Süden. So hat er im Januar 2014 ein Haus in Eski Qırım gekauft, einer Kleinstadt im Landesinneren der Halbinsel Krim. Es war kein gutes Geschäft, denn bereits einen Monat später tauchten dort die russischen „grünen Männchen“ auf; die Krim wurde annektiert. Oleh verkaufte das Haus mit Verlust und zog mit seinen Tomaten in ein Dorf nördlich von Otschakiw, einer Hafenstadt im Dnipro-Delta am Schwarzen Meer.

In den letzten Jahren telefonierten wir ziemlich selten miteinander. Am heutigen Nachmittag klingelte mein Handy. Es sei alles in Ordnung hier, sagte er, alles ruhig. Gestern habe man hier allerdings mehrere Kolibris gesichtet. Was? – Ich verstehe nicht. – Na ja, die russischen Präzisionsraketen vom Typ Kalibr. Sie fliegen recht tief, man kann sie an ihrem Feuerschweif gut erkennen. Hier ist nichts passiert, aber den Flottenstab in Otschakiw und alles rund herum haben sie zerdeppert. Eine Frau, die hier im Dorf eine Datscha hatte, wurde bei dem Angriff getötet.

Nun verwendet die russische Armee nur ganz selten ihre Kalibr-Raketen. Es sollen nicht so viele davon geblieben sein. Und der Widerstand der Ukrainer bleibt ungebrochen.

Es scheint, dass der Westen abgewartet hat, ob die Ukrainer sich wehren werden. Mit einer entschlossenen Abwehr hat wohl niemand gerechnet. In Russland auch nicht. Nun scheint der russische Angriff ins Stocken geraten zu sein, auch wenn die Lage äußerst kritisch bleibt und bislang schon so viele Menschen in der Ukraine sterben mussten. Und es werden noch mehr sterben.

Nun aber bricht das Eis immer schneller. Also: Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen! Und immer weiter Waffen liefern! Schade nur, dass dieser Preis notwendig war, um dem Westen die Augen zu öffnen. Damit er begreift, dass im Kreml ein wahnsinniger Kriegsverbrecher sitzt.

Noch vor zwei Tagen dachte ich, dass Kolibri ein Vogel aus Südamerika ist. Man lernt nie aus.

Lemberg, den 26. Februar, nachmittags

Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden aufgerufen, Wegweiser und Straßenschilder abzumontieren, um den russischen Truppen die Orientierung zu erschweren. Das Anbringen von alternativen Wegweisern und Schildern wird begrüßt. Zum Beispiel kann man schreiben, dass russische Soldaten sich verpissen sollen. Mit Richtungsangabe. Der Ausdruck dafür auf Russisch ist übrigens viel ausdrucksstärker und emotionaler. Die Ukrainer verwenden die russischen Flüche derzeit besonders gerne.

Hacker greifen ununterbrochen Websites russischer Behörden und Banken an. Man vermutet die international agierende Anonymous-Gruppe dahinter, eine lose Vereinigung von Hacktivisten. Eine Datenbank des russischen Verteidigungsministeriums wurde gehackt und ist nun im Netz frei zugänglich. Meldungen zufolge waren bisher auch die Websites der russischen Eisenbahn, des Kreml, der Sberbank und der föderalen Medienaufsichtsbehörde Roskomdadsor betroffen. In russischen Fernsehkanälen sollte ukrainische Musik ertönen.

Die Abschaltung der russischen Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT scheint beschlossene Sache zu sein. Danke und weiter so!

Die ARD hat die alpinen Wettbewerbe wiederentdeckt. Am Vormittag übertrug das Sportstudio den Männerslalom in Garmisch-Partenkirchen. In den Alpen scheint die Welt in Ordnung zu sein. Dort gibt es sogar Schnee.

Lemberg, den 26. Februar, morgens

Puh … In der Nacht wurde keine einzige ukrainische Großstadt eingenommen. Schwere Kämpfe um Kiew und Charkiw. Eine russische Rakete schlägt in ein Wohnhaus in Kiew ein, etwa im sechzehnten oder siebzehnten Stock. Ob dabei Menschen gestorben sind, ist vorerst unklar. Das Hochhaus ist möglicherweise einsturzgefährdet.

Aber die ukrainische Armee hält die Positionen. Bei Brody, einem etwa 100 km nordöstlich von Lemberg gelegenen Städtchen, in dem einst Joseph Roth geboren wurde, sollen russische Helikopter Fallschirmjäger abgesetzt haben; später aber wird die Meldung dementiert. Die Schaukel zeigt leicht nach oben.

Kiew nach einem Raketenangriff

Quelle: Getty Images

Ein gefangener russischer Soldat erzählt vor der Kamera, dass russische Offiziere ihnen gesagt hätten, die Ukraine habe Russland überfallen. Genau.

In einem inzwischen berühmt gewordenen Werbespot von Apple für den ersten Macintosh-Computer, der während des Super Bowl im Januar 1984 ausgestrahlt wurde, sitzt eine graue Masse von anonymen Menschen in einer düsteren Halle und schaut auf den Bildschirm mit dem „Großen Bruder“. Er spricht davon, dass das Land frei von Schädlingen sein wird, die oppositionelle Gedanken verbreiten, und dass man die Feinde in ihrer eigenen Verwirrung begraben wird. Als eine junge Frau, die von vermummten Polizisten verfolgt wird, einen Hammer wirft und den Bildschirm mit dem sprechenden Kopf des „Großen Bruders“ zerschlägt, erscheint auf dem Bildschirm der Werbeslogan „Am 24. Januar wird Apple Computer ‚Macintosh‘ vorstellen. Und du wirst sehen, warum 1984 nicht wie ‚1984‘ sein wird.“

Die dystopische Welt von George Orwells berühmtem Roman ist 1984 tatsächlich nicht eingetreten. 2022 sind wir – in ihrer russischen Interpretation – viel näher dran. Auf einem Plakat, das die russischen Streitkräfte preist, heißt es „Wo wir sind, ist Frieden“. Krieg ist Frieden. Und Lüge ist Wahrheit. Der gefangene russische Soldat hat es gestern ein weiteres Mal bestätigt.

Die Ukraine bittet das Rote Kreuz, etwa tausend Leichen getöteter russischer Soldaten nach Russland zu bringen. Die russische Militärführung meldet lapidar: „Keine Verluste“.

Lemberg, 25. Februar, abends

Meinen Freund Oleh erreiche ich heute am Nachmittag erst nach mehreren Versuchen. Wir kennen uns seit über zwanzig Jahren, er ist Journalist beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Im Moment arbeitet er von zu Hause – der Ausdruck Homeoffice würde vielleicht zu Corona passen, im Krieg klingt es aber ganz komisch. Einige Male bekomme ich die Meldung, dass die Nummer nicht erreichbar ist. Seine andere Nummer funktioniert auch nicht. Nach einer Stunde meldet er sich zurück. Er war im Keller seines mehrstöckigen Wohnhauses. Dort haben die Einwohner eine Art Luftschutzbunker eingerichtet. Es war schon der fünfte Fliegeralarm in Kiew am Tag zwei der russischen Invasion.

In Lemberg wird Blut gespendet

Quelle: AFP

Ein Bekannter hatte seine Frau und zwei kleine Kinder an den Grenzübergang nach Polen gebracht. Die Mutter und zwei Töchter stiegen aus, der Mann kehrte zurück. Die drei stellten sich ans Ende der langen Schlange am Fußgängerübergang Schegini/Medyka. Nach fünf Stunden waren sie kaum ein paar Meter vorangekommen. Es wurde dunkel und kalt. Nach noch einer Stunde gab die Frau auf und rief ihren Mann an. Er holte sie wieder ab. Habe ich nicht im deutschen Fernsehen einen Bericht gesehen, wie die ukrainischen Flüchtlinge schnell nach Polen durchgelassen werden? Oder war es ein Traum?

Das ukrainische Verteidigungsministerium meldet, dass die russischen Truppen bisher bis zu 80 Panzer, über 500 gepanzerte Wagen, zehn Flugzeuge und sieben Helikopter verloren haben. 2.800 russische Soldaten wurden getötet, verwundet oder gefangen genommen. Überprüfen kann man diese Angaben nicht, also weiß man nicht wirklich, ob die Zahlen stimmen. Aber es hört sich gut an. Und Mitleid mit getöteten russischen Soldaten hat man sowieso nicht. Der Krieg verändert schnell das Bewusstsein.

In Lemberger Supermärkten kann man am Nachmittag verschiedene Sorten Ketchup kaufen. Die Regale für Brot, Pasta und Wasser sind gähnend leer.

Lemberg, 25. Februar, morgens

Was macht man normalerweise, wenn man morgens aufsteht? Duschen, Zähneputzen, Frühstücken? Nein, nicht jetzt. Man guckt sich ganz schnell die Nachrichten im Smartphone an und läuft zum Computer. Ein schneller Check, was in der Nacht passiert ist.

Ich kenne dieses Gefühl sehr gut. Genauso war es 2014, als Russland den Krieg im Donbas begonnen und seine Soldaten, Panzer und Milizen in die Ukraine geschickt hat. Auch damals war die erste Frage nach dem Aufwachen: Was ist im Osten passiert? Wie viele Menschen sind gestorben?

Die letzte Nacht war ruhig in Lemberg. Ich konnte sogar halbwegs gut schlafen. Mit Schweißausbrüchen. Kurz vor sieben der Fliegeralarm. In Lemberg nimmt man ihn noch nicht ganz ernst. Bisher sind hier die Raketen ausgeblieben.

In Kiew nicht. Erschreckende Bilder von brennenden Häusern und Verletzten. Sowas passiert, wenn man jahrelang dem kriminellen Treiben eines wahnsinnigen Diktators tatenlos zuschaut und mit ihm Handel treibt. Das ist Europa im 21. Jahrhundert.

Die Schaukel hat in der Nacht eine starke Neigung nach unten bekommen. Die Nachrichten sind nicht allzu optimistisch. Kiew scheint stark gefährdet zu sein. Wird es dort bald Straßenkämpfe geben?

Die Züge fahren nicht mehr pünktlich, aber sie fahren. Eine Anwaltskanzlei in Kiew hat zwei Waggons für eine Betriebsfete in den Karpaten reserviert. Schlechtes Timing. Pech gehabt. Aber ein Glück für meine Bekannte, die gestern Abend in einem der beiden Waggons mitfahren konnte. Zunächst hieß es, in den Bahnhof dürfen nur Menschen mit Fahrkarten hinein. Dann wurde man ohne Fahrkarte zum Bahnsteig durchgewunken, einsteigen durfte man aber noch nicht. Schließlich fuhr der Zug voller Menschen los, Fahrkarten brauchte man keine mehr. In Lemberg kam er nur zwei Stunden verspätet an. Dann fuhr der Zug weiter in Richtung Karpaten.

Im deutschen Fernsehen laufen nur noch Ukraine-Nachrichten. Und Wetter. Im ukrainischen gibt es keine Wetterberichte mehr.

Lemberg, 24. Februar, abends

Es ist wie eine Schaukel. Mal eine gute Nachricht, mal eine schlechte. Verifizieren lassen sich in der Regel weder die eine noch die andere, zumindest nicht sofort. Den ganzen Nachmittag versuche ich, jemanden in Mariupol zu erreichen. Die Hafenstadt am Asowschen Meer mit zwei großen Stahlwerken liegt nur wenige Kilometer von der sogenannten Trennlinie zwischen dem ukrainisch kontrollierten Gebiet und dem Marionettenregime. Seit Stunden gibt es keine Information darüber, was da los ist. Am Vormittag gab es Meldungen über russische Landetruppen, später wurden sie dementiert.

Endlich meldet sich Oxana. Die Lage sei äußerst angespannt, die Stadt mit mehr als 400.000 Einwohnern werde vom Osten und vom Meer ständig beschossen, es gebe Tote und Verletzte unter Zivilisten. Sie sagt auch, dass sehr viele Menschen sich für die Mobilmachung gemeldet haben und dass man gar nicht daran denkt aufzugeben. Das ist gut, auch wenn die Lage recht gefährlich sein muss.

Es scheint, dass die Kämpfe um den Flughafen Hostomel in der Nähe von Kiew besonders heftig waren. Es ist der Heimatflughafen des Flugzeugherstellers Antonow, der dort seine Maschinen wartet und testet. Vor einigen Jahren habe ich dort die An-225 „Mrija“ besichtigt, das größte Flugzeug der Welt. Am Abend scheint es, dass die russischen Truppen den Flughafen doch eingenommen haben. Schlecht. Die Landebahn hat man aber wohl zerstört, sodass die russischen Maschinen dort nicht landen können. Schon besser.

In Lemberg konnten wir am Nachmittag kein Brot mehr kaufen. Die meisten Geschäfte sind zu. Die Wechselstuben auch. Aber keine Schlangen an den Geldautomaten. Ob es dort noch Geld gibt? Mit der Karte kann man problemlos zahlen.

Hallo, Westen! Wo sind die ganz harten Sanktionen?

Lemberg, 24. Februar, mittags

Es ist eine E-Mail aus der Parallelwelt angekommen. Die Leipziger Filiale des Polnisches Instituts in Berlin schickt eine Rundmail mit der Ankündigung zweier Veranstaltungen. Am 1. März wird in Leipzig ein polnischer Film aufgeführt. Eine schwarze Komödie. Der Name passt: „Panik Attack“. Nach drei Fliegeralarmen heute in Lemberg ist es gut zu wissen, dass es sich um eine schwarze Komödie handelt. Es beruhigt.

Die zweite Veranstaltung soll im Rahmen des Leipziger Europaforums am 19. März stattfinden. Es steht eine Diskussion über die EU-Sicherheitspolitik an. Eine der Fragen: Wie könnten die EU und die internationale Gemeinschaft auf eine weitere Aggression zum Beispiel gegen die Ukraine reagieren? Man hat wohl heute in Leipzig keine Nachrichten gehört. Glückliche Menschen.

Inzwischen bilden sich lange Schlangen vor den Geschäften und an den Tankstellen. Benzin und Diesel werden bei einer der größten Ketten nun rationiert, man bekommt maximal zwanzig Liter pro Auto. Trinkwasser konnten wir gerade noch kaufen. Sechs Liter. In kleinen Flaschen, große gab es nicht mehr. Morgen soll eine neue Lieferung kommen, aber mit Sicherheit kann man das nicht wissen.

Auch in Kiew stehen die Menschen für Wasser an

Quelle: AP

Auf den Landstraßen von Kiew nach Lemberg berichtet man von Staus und stockendem Verkehr. Die ukrainischen Streitkräfte brauchen dringend LKWs, um Nachschub an Waffen aus Polen zu transportieren. Meldungen über abgeschossene russische Flugzeuge und Helikopter sowie zerstörte russische Panzer. Kämpfe um die Stadt Sumy im Nordosten. Ob die russische Armee schon in der Stadt ist, bleibt unklar.

Es ist fast unmöglich, ein Hotelzimmer in Lemberg zu bekommen. Einen ähnlichen Run auf Hotels gab es bisher nur einmal vor mehr als zwanzig Jahren – im Juni 2001, als der Papst Johannes Paul II. die Stadt besuchte. Damals gab es aber nur ein paar Hotels in der Stadt.

Lemberg, 24. Februar, morgens

Mein Sohn hat mich heute um kurz vor sechs aus dem Schlaf gerissen. Normalerweise schläft er den ganzen Vormittags durch, wie es bei Studenten so üblich ist. Vorlesungen und Seminare an der TU gibt es coronabedingt nur online. Also kann man sich einloggen und weiterschlafen. In dieser Nacht war er schneller dran. Schon wenige Minuten, nachdem die ersten russischen Raketen auf ukrainischem Gebiet einschlugen, hat sich die Nachricht über die sozialen Netzwerke wie ein Lauffeuer verbreitet.

„Was?“, frage ich aus dem Halbschlaf. „Was ist los?“ – Eine dumme Frage. Ich weiß doch, was los ist. Wir wussten ja alle, was passieren wird. Und trotzdem haben wir nicht wirklich daran geglaubt. Nun ist es passiert. Ein irres Gefühl. Das Monster hat zugeschlagen. Ein Monster, das mit westlicher Hilfe gezüchtet wurde. Das vom Geld aus seinen Geschäften mit dem Westen keine Straßen und Krankenhäuser, sondern Panzer und Raketen gebaut hat.

Ich taumele noch im Halbschlaf zum Computer, versuche mir ein Bild von der Lage zu machen. Mittlerweile läuft mein Handy heiß. Freunde, Bekannte aus aller Welt. Ich versuche auch, ein paar Freunde überall im Land zu erreichen. Es gelingt mir nicht immer sofort. Die Mobilfunknetze scheinen überlastet zu sein, funktionieren aber.

Eine gute Bekannte aus Charkiw sitzt am Steuer ihres Autos, als sie meinen Anruf entgegennimmt. Es wirkt irgendwie beruhigend, ihre Stimme zu hören. Viel besser, als sich über die sozialen Netzwerke zu informieren. Sie versucht, die Stadt zu verlassen. Russische Raketen haben inzwischen mehrere Häuser in Charkiw zerstört. Alles stehe im Stau, sagt sie. Und man weiß nicht, wohin man fahren soll.

Inzwischen weiß man nicht, welche E-Mail man zuerst beantworten soll. Man wird von allen möglichen Medien belagert. Alle wollen eine Story, einen Augenzeugenbericht. Gestern haben wir noch mit einem deutschen Radiosender vereinbart, über die Rolle der Künstler in einem vom Krieg bedrohten Land zu sprechen. Das ist nun Makulatur. Jetzt schlägt die Stunde des Katastrophenjournalismus.

 

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Warum sind Afrikanische Wildhunde so gefährdet?

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Alexei Navalny urges Russians to protest daily against Ukraine invasion